Wenn die Menschen nicht gewillt sind, den gerechten und barmherzigen Gott zu fürchten,
müssen sie früher oder später den ungerechten und gnadenlosen Menschen fürchten,
wobei ihre Freiheit, an der sie so krampfhaft festhalten wollten, immer mehr verloren
geht. Diese Tatsache ist bereits Inhalt des Alten Testaments der Bibel und wird
durch die Geschichte der letzten 2000 Jahre bestätigt.
Die Christenheit "versagte, wie ein schlaffer Bogen"*
leider während der vergangenen Jahrhunderte, indem sie ihre Sendung nicht erfüllt
hatte, dazu viele von denen, die sich als gottgläubig bezeichneten, fürchteten
sich nicht, fortwährend die unterschiedlichsten und himmelschreiendsten Ungerechtigkeiten
zu verüben. Damit entheiligten sie den Namen Gottes und seines Gesalbten unter
den Menschen, ganz wie das Volk des ersten Bundes, und das konnte nicht ohne Folgen
bleiben. Diejenigen, die diese Heuchelei verdross und sie nicht mitmachen wollten,
waren teilweise aufrichtiger als die sogenannten Gläubigen. Die vielen Leute,
die sich betrogen fühlten und enttäuscht waren, wollten dann die Sache selbst
in die Hand nehmen und haben den Seienden zornig als nichtseiend erklärt. Als
wenn er an dem blinden Egoismus des Menschen schuld wäre.
Viele arbeiten nun wieder daran, eine neue Weltordnung zu schaffen. Die Frage
ist, wie weit die Opfer und die Früchte der jüngsten großen menschlichen Eigeninitiative,
in dieser Welt Gerechtigkeit und Ordnung zu schaffen, bekannt sind, und wie weit
die dabei gemachten Erfahrungen berücksichtigt werden? Ob heute alles besser überlegt
wird, oder der Mensch die alten Fehler wieder begeht?
Wozu unverantwortliches, blindes Experimentieren führen kann, ist in diesem Buch
nachlesbar. Das hier ist ein lebendiges Zeugnis dafür, wo Gerechtigkeitsbestreben
von gottlosen Menschen zu enden pflegt. Beim Lesen fragt man sich, wie es nur
so weit kommen konnte? Wo liegen die Ursachen dafür, wo ist da ein Sinn zu erkennen,
und wo hat der menschliche Zynismus seine Grenzen? Und ob so etwas wirklich auf
ewig der Vergangenheit angehört?
Schön wäre es, glauben zu können, dass die in diesem Buch Erzählten schon endgültig
der Vergangenheit angehörten, so töricht selbstzerstörerisch der Mensch niemals
wieder sein wird. Aber die Zeichen deuten nicht darauf hin. Alarmierende Tendenzen
werden in der "modernen" Welt zu wenig beachtet oder missdeutet, unvernünftige,
von geistiger Blindheit zeugende Gesetze werden selbstsicher kreiert, die Übeltäter
haben einen gesetzlichen Schutz, wie nie zuvor. Das "Kultur" genannte Unkraut
wird reichlich ausgesät und obwohl seine Früchte immer stärker in Erscheinung
treten, nimmt man sie einfach hin, als wenn es so in Ordnung wäre. Der Schöpfer
der Welt hat dabei wieder nichts zu sagen - ganz nach alter Manier. Wie es in
den Psalmen steht: "Sie lassen sich nichts sagen und sehen nichts ein,
sie tappen dahin im Finstern. Darum wanken alle Grundfesten der Erde."
Es droht erneut die totale Herrschaft des einen Menschen über den anderen, aber
ohne Achtung vor Gott kann es gar nicht anders sein. Irgendwie muss ja Disziplin
geschaffen werden. Aber damit wird die allgemeine Gerechtigkeit, die Freiheit
und damit der Frieden unausweichlich wieder nur ein unerreichbarer Traum bleiben.
Das Wort "Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst!" wird auf diese
Weise immer unbegreiflicher, und der Bewohner der Erde immer unglücklicher.
Man sollte die Erzählung meines Vaters lesen, um das Wesen von gottlosen Systemen
besser kennen zu lernen und entscheiden zu können, ob so etwas wirklich wünschenswert
ist. Dann hatte das Leiden von unzähligen Menschen wenigstens für die Nachkommen
einen Sinn. Es liegt an uns allen, was mit uns und mit unseren Kindern in der
Zukunft passieren wird. Wir gestalten schließlich unsere eigene Geschichte und
wir verfügen über einen eigenen freien Willen. Um aber Entscheidungen richtig
treffen zu können, ist es ratsam, Bescheid zu wissen. "Es gibt nichts
Neues unter der Sonne."
Mein Vater hatte die Hilfe des Himmels nicht abgelehnt, das Vertrauen auf Gott
nicht aufgegeben, sich nach seinem besten Wissen und Gewissen an die Regeln des
Lebens gehalten und auch die schwersten Zeiten so überlebt, dass er noch Mensch
bleiben und eine Zukunft haben konnte.
László Rózsás
Übersetzer des Buches
Einleitung
Gegen Ende des zweiten Weltkrieges, im Frühherbst 1944, hatte die Rote Armee das
Karpatenbecken allmählich überflutet. Als der erste kämpfende sowjetische Soldat
seinen Fuß auf ungarischen Boden setzte, begann sofort eine grausame Unterjochung
unseres Landes mit reihenweisen Festnahmen von Zivilpersonen, sowohl Männern als
auch Frauen. Die sowjetischen Militärgerichtshöfe stellten sie, in Zusammenarbeit
mit den Organen der politischen Abwehr, den sogenannten Smersch, auf Grund verschiedener
Anklagen und vorgetäuschter Scheingründe vor Gericht. Die Opfer, die sich unter
unmenschlichen Umständen in der Untersuchungshaft quälen mussten, verstanden wegen
der mangelhaften Sprachkenntnisse der Dolmetscher aus den ihnen zur Last gelegten
Anschuldigungen nichts. Man konnte nur vage ahnen, dass die in den Verhörprotokollen
festgehaltenen unbewiesenen, auf Annahmen und Verleumdungen aufgebauten Anklagen
auf Kollaboration mit den faschistischen Deutschen, sowjetfeindlicher Spionage
und nie verübten Terrorakten beruhten.
Verteidigungsmöglichkeiten vor den sowjetischen Militärgerichtshöfen gab es nicht.
Die Rechtsprechung dauerte jeweils nur einige Minuten. Man verurteilte die Beschuldigten
gruppenweise, nahezu am laufendem Band auf Grund der in unverständlicher Sprache
vorgelesenen Anklageschrift. Es wurden die Todesurteile gefällt, 10-, 15- oder
25-jährige Zwangsarbeit verhängt, je nach dem, was der fantasiereiche Untersuchungsrichter-Offizier
in sein Verhörprotokoll hineingeschrieben hatte. Im Paragraphen 58 des sowjetischen
Strafgesetzbuches waren die unterschiedlichen Anklagepunkte aufgelistet. So betraf
die Ziffer (6) Spionage, Ziffer (8) Terror, Ziffer (9) Diversion, Ziffer (10)
antisowjetische Agitation, Ziffer (11) gemeinschaftliche Agitation und Ziffer
(14) Sabotage. Wir Ungarn wurden auf Grund dieser Punkte verurteilt, und erfuhren
erst nach Jahren, wie die Anklage ungefähr gelautet hatte, als wir bei Datenvergleichen
uns diese Punkte merken und angeben mussten.
Den größten Anteil der durch die sowjetischen Militärgerichtshöfe verurteilten
Ungarn machten die jungen Levente-Leute im Alter von 15 bis 20 Jahren aus. Gegen
Ende des Krieges, als Ferenc Szálasi, der Parteiführer der Pfeilkreuzer mit Unterstützung
der hitlerschen Militärgewalt die unbeschränkte Macht in Ungarn an sich gerissen
hatte, mobilisierte er die Jugend in den noch unter deutscher Besatzung stehenden
Landesteilen. Einen Teil von ihnen hatte man nach Österreich oder Deutschland
transportiert um sie militärisch auszubilden. Aus diesen sind später die sogenannten
"Westler" geworden. Den anderen Teil, hauptsächlich die 18-20-jährigen hatte
man in verschiedene Truppeneinheiten geschart und nach kurzer und oberflächlicher
Ausbildung an die Front entsandt, dürftig bewaffnet und in den meisten Fällen
in ihrer eigenen Zivilkleidung, in denen sie dem SAS-Aufgebot oder dem Getrommel
des Schultheißen gehorchend zum Militärdienst eingezogen waren.
Ein Teil der an die Front getriebenen Jugendlichen starb im Aufeinandertreffen
mit den sowjetischen Kräften den Heldentod, ein anderer Teil geriet in Gefangenschaft.
Einige Truppeneinheiten lösten sich in der Kopflosigkeit und Verwirrung des Rückzugs
auch einfach auf. Die Levente-Jugendlichen zerstreuten sich, flüchteten nach Hause.
Schließlich wurde ihr Schicksal den ihrer in die Kriegsgefangenschaft geratenen
Kameraden doch gleich: sie wurden verhaftet. Die Abwehreinheiten der Roten Besatzungsarmee
hatten sämtliche Namenlisten der verschiedenen, aus den Leventen rekrutierten
Truppen erhalten. Sie holten die jungen Knaben aus ihren Elternhäusern und verurteilten
einen nach dem anderen als Kriegsverbrecher. Die Anklage, die man aus den Worten
der Dolmetscher herausschälen konnte, lautete, dass sie freiwillig gegen die sowjetische
Armee gekämpft hätten. Alle Beteuerungen, sie seien auf Befehl zum Militär gegangen
und hätten niemals einen sowjetischen Soldaten gesehen, bevor die Front ihr Dorf
erreicht hatte, waren vergeblich - es wurden ihnen als Terroristen und Kriegsverbrecher
schwere Strafen auferlegt.
In sehr vielen Fällen mühte sich die sowjetische Abwehr nicht einmal mit Namenlisten
ab. Die auf den Straßen patroullierenden Militärstreifen redeten ahnungslose Schüler
oder Lehrlinge an und nahmen sie kurz mit zur Kommandantur um sie sich dort ausweisen
zu lassen. Aus dieser halben Stunde wurden dann 8 bis 10 Jahre, bis einige Überlebende
von ihnen aus den Urwäldern Sibiriens, von den eisigen Tundren oder aus den berüchtigten
Goldgruben Kolimas als Boten wieder nach Hause zurückkehrten.
Als 18-jähriger Levente, teilte auch ich das Schicksal der Jugend des Krieges.
Im November 1944 wurde ich zum Militärdienst einberufen und gelangte nach kurzer
Ausbildung mit meiner aus Leventen rekrutierten Abteilung bei Marcali an die Front.
Wir gerieten am 22. Dezember, an einem trüben Wintervormittag, im Wald von Csömend,
hinter die sowjetischen Frontlinien und wurden dort gefangen genommen. Man nahm
uns sofort fest und verurteilte uns, nach eineinhalbmonatiger Untersuchungshaft,
in der Gemeinde Páhi bei Kiskõrös, am 6. Februar 1945, zu 10-jähriger Zwangsarbeit.
Aus der auf Russisch stattgefundenen Rechtsprechung verstand ich nichts, die auf
Ungarisch kaum stammelnde ruthenische Alte, unsere Dolmetscherin, erwähnte lediglich
immer wieder Sibirien.
Bald reisten wir, auf eisigem Waggonboden gerüttelt, in die Sowjetunion, um die
über uns verhängte Strafe in Arbeitslagern abzubüßen. Zunächst mussten wir eine
Quarantänezeit in den überfüllten, ungeheizten Zellen des Gefängnisses von Odessa
verbringen. Auf dem Zementboden des Gefängnisses umgaben mich nicht nur Bürger
des Sowjetreichs, sondern eine aus allen Völkern Europas zusammengescharte Menge
von Gefangenen. Während meiner Odyssee verlor ich meine Levente-Kameraden und
ungarischen Mitgefangenen aus den Augen, so dass ich kein Wort der um mich wimmelnden
Menschen verstand, so wie auch sie mich nicht verstehen konnten.
Aus dem Gefängnis gelangte ich im April 1945 mit einem umfangreichen Gefangenentransport
in das erste Arbeitslager, in die an der Einmündung des Flusses Bug liegende Stadt
Nikolajew. Nach den Entbehrungen des Gefängnisses kam das Zeitalter des Hungerns
in den Lagern auf uns zu. Es steigerte das Elend, dass man uns im schneidend kalten
Meereswind, in unseren zu Lumpen zerfetzten Kleidern, täglich zwölf Stunden lang
zur Räumung der Trümmer der durch die Deutschen bis auf den Grund zerbombten,
riesigen Schiffswerft hetzte.
Im August 1945 ging es weiter in die Gegend der Stadt Cherson, in ein landwirtschaftliches
Lager. Während des Herbstes konnten wir uns mit Tomaten und Kraut sättigen, aber
als die Felder abgeerntet waren, bedrängte uns der Hunger erneut. Im Februar 1946
kam ich völlig entkräftet in das städtische Gefangenenkrankenhaus. In drei Monaten
brachten sie mich wieder auf die Beine. Dann ging es wieder ins Arbeitslager...
Dieses Buch gibt den darauf folgenden halbjährigen Zeitabschnitt aus meiner insgesamt
neunjährigen Gefangenschaft wieder, in dem für mich die Entscheidung über Leben
oder Tod fiel.
6. Oktober 1946
Wie in den vorigen Tagen, begann auch der Ablauf dieses Tages für uns mit Namensaufruf.
Erleichtert hörten heute auch wir unsere Namen unter den zur Etappe Aufgerufenen.
Unverzüglich eilten wir auf den unteren Hof hinunter. In den anderen Baracken
hatte man anscheinend die Namenliste schon früher verlesen, denn wir fanden in
der Nähe des Ausgangstores schon eine aufgeregt wimmelnde Menge vor. Ich sah zu
meiner Zufriedenheit, dass auch mehrere Mitglieder unserer chersonischen Brigade
dort herumstanden. Werbizkij war auch dabei. Wenn er doch auch im neuen Lager
unser Brigadier sein würde! Man fühlt sich gleich mehr in Sicherheit, wenn man
unter Bekannten in die unbekannte Zukunft weiterreisen kann.
Der Himmel war trüb. Die tieffliegenden Wolken versprachen Schnee. Es kam uns
nicht so kalt vor, wie in den vergangenen Tagen. Oder hat uns vielleicht die Aufregung
von innen aufgeheizt? Kaum! Gegen den nördlichen Frost bietet die unser Inneres
füllende scheue Aufregung wenig Schutz!
Ein Nadsiratel verlas die Namenliste. Wir waren so um Dreihundert. Ungarische
Namen hörend merkten wir auf. Neugierig forschten wir, von welchem Häftling es
sich herausstellt, dass er ein Landsmann ist, den wir bis jetzt für einen Russen
gehalten hatten?
Das große Tor öffnete sich. Ein Offizier las uns von einer weiteren Namenliste
in den weiten Kordon der Wachen aus dem Lager hinaus. Ich empfand es als einen
merkwürdigen Mangel, dass uns im Tor keine Visitationssoldaten den Weg verstellten.
Demnach ist es hier nicht die Sitte, auf Schritt und Tritt zu visitieren. Mit
Beruhigung tappte ich auf mein sorgfältig bewahrtes, kleines Gebetbuch in der
selben oberen Tasche, wohin ich es noch in Cherson verborgen hatte. Hervornehmen
durfte ich es nicht - man hätte es mir gleich als Zigarettenpapier weggenommen,
um die trockenen Blätter der auf dem Hof dahinvegetierenden Birke, statt von Tabak
hineinzureiben.
Etwas weiter vom Tor entfernt stand wieder der verhängnisvolle Tisch, mit den
Akten darauf. Neben ihm auf einer auf den Boden ausgebreiteten Plane häuften sich
Brotlaibe und Konservengläser. Ein offener Zuckersack lehnte am Fuß des Tisches.
Nach dem Vergleich der Personalien drückte man jedem der Auserwählten ein 2 kg
schweres Brot, einen halben Liter Bohnenkonserve, und einen gehäuften Esslöffel
Zucker in die hohle Hand.
"Verpflegung für drei Tage!" wurde dem Verurteilten, dessen Augen nur an
dem Essen hingen, ausdrücklich eingeschärft. Es wurde noch hinzugefügt, dass wir
außerdem als Ergänzung, morgen zum Frühstück unterwegs noch Suppe und Fisch bekommen
würden. Die Warnung, das Brot sparsam zu verzehren, ließen wir alle, einige magenkranke
alte Menschen ausgenommen, unbeachtet.
Wir mussten uns im weiten Kreis der Soldaten, die kein rotes Paroli mehr hatten,
sondern ein grünes, schön reihenweise zu fünft auf den Boden setzen, bis alle
Namen verlesen waren und auch die Soldaten sich auf den Marsch vorbereiteten.
Die auf dem bereiften Gras hockende Schar nützte die Wartezeit dazu, zu dem in
seiner hohlen Hand schmelzenden Zucker die fünf Fingernägel in das Brot gebohrt
kleine Stückchen Brotkrusten abzubrechen. "Auf einer schiefen Ebene kann
man nicht Halt machen", sagen die Ehrenhüter in vielen Fällen, wenn jemand anfängt
liederlich zu leben. Nun auch wir begannen vom Brot mit leichtfertiger Unbesonnenheit
zu naschen und zu nagen.
Das Ablösen der knusprig gebackenen Brotkruste konnte ich auch nach dem Lutschen
des Zuckers nicht aufhören. Ich brach und riss die dreitägige Portion so lange,
bis ich die Kruste des ganzen Brotlaibes rundherum abgegessen hatte, und soviel
Krume dazu, wie mit der Kruste mitkam. Es blieb kaum ein Drittel des Brotes übrig,
das ich dann mit einem starken Entschluss in meine Brottüte steckte - für Morgen!
Auch Feri aß still, vor sich hinglotzend. Es gab auch solche, die auf einem Sitz
alles verschlangen, das Brot, den Zucker und die Bohnenkonserve. Der hungrige
Mensch teilt sich nichts ein, sei es auch noch so unvernünftig. Er überlegt nichts,
sondern ißt, so lange es möglich ist. Auf dem Platz vor dem Peresilka in Solikamsk
aßen wir auch so lange, bis uns die Puste ausging.
Die Gesellschaft wurde richtig fröhlich. Gut gelaunt machten wir uns auf den Weg,
als ob wir einen angenehmen Ausflug machen würden. Durch von ebenerdigen Häuschen
gesäumte Straßen gingen wir stadtauswärts. Wir zogen neben einen kleinen Park
vorbei, im Schnittpunkt von mehreren, sich zu einem Platz verbreiternden Straßen.
Es standen einige Steinbänke neben den mit verwelkten Blättern bedeckten, gekiesten
Wegen. In der Mitte des Parks standen auf niedrigen Fundamenten riesige Bronzestatuen
von Lenin und Stalin. Jenseits des Platzes erhob sich weit über die umliegenden
Häuschen jene orthodoxe Kirche, welche wir vor ein paar Tagen aus dem Zugfenster
gesehen hatten. Man benutzte die Kirche als Benzinlager. Ölfässer reihten sich
am Fuß der verwitterten Wand. Die Räder der Lastwagen und Zugmaschinen hatten
den schwarzen, schlammigen Boden tief ausgefurcht. Verwüstung und Verwahrlosung
herrschten in der kahlen Umgebung der einstigen Kathedrale.
Außerhalb der Stadt führte uns der Weg einige Kilometer weit zwischen Äckern hindurch.
Die Flecken des in den vergangenen Tagen gefallenen Schnees waren noch am Feldrain
und an den Grasbüscheln zu sehen. Nasskalt, leblos, düster war alles, sowohl am
Himmel, als auch auf der Erde.
Auf schlammigem Weg kamen wir an den Rand der endlosen Wälder. Nach den ebenen
ukrainischen Steppen war das mit Birken durchsetzte Dickicht der Tannenwälder
neuartig und erregend. Der Urwald der Taiga sauste nicht mehr am Fenster des Zuges
vorbei, sondern war um uns herum und über uns. Wäre unser Blick nicht immer wieder
an den mit schussbereit gehaltenem Gewehr uns beobachtenden Soldaten hängengeblieben!
Aber wir konnten uns trotz der drohenden Gewehrläufe an der Schönheit der Natur
ergötzen!
Wir legten auf einer Waldlichtung an einem sanften Hang, eine kurze Rast ein,
damit jeder seine Notdurft verrichten konnte, um unterwegs nicht immer wieder
halten zu müssen. Ich verrichtete meine Sache schnell, und während die Anderen
inmitten der Büsche umherstolperten, setzte ich mich auf den Grabenrand und verzehrte
den Rest des Brotes, wovon ich auch unterwegs schon brockenweise genascht hatte,
mitsamt der Bohnenkonserve. Ich war mit dem für die drei Tage erteilten Essen
fertig! Leichten Herzens und brennenden Magens marschierte ich mit den Anderen
weiter. Ich spürte, dass ich ein bisschen zu viel gegessen hatte, aber der Rausch
des Sattseins tat mir so wohl!...
Der schmale Fahrweg, worauf wir die Eskorte an der Spitze folgend gekehrt waren,
führte uns schlängelnd bergab und bergauf. Parallel mit der Zugkolonne brachen
unsere wachsamen Hüter durchs Gehölz und beobachteten feindselig all unseren Bewegungen.
Der Befehlshaber des Transports, ein Hauptmann mittleren Alters, sprengte zu Ross
mal vor, mal hinter uns her, dann beobachtete er zur Abwechslung die lang ausgedehnte
Kolonne von der Seite her.
Rasch nahte der Abend. Die disziplinierenden Rufe der Wachen erschollen immer
öfter inmitten der Bäume und hallten mehrfach im stillen, dunklen Wald wider.
Auf dem von den Karrenrädern gefurchten, pfützenreichen Weg lösten sich die Fünferreihen
immer wieder auf.
"Aufrücken! Schneller! Zu fünft!" donnerte das Gegröle der unruhig gewordenen
Soldaten. Hinter uns fingen die an dünnen Stahlketten gehaltenen Diensthunde an
zu kläffen. Zu unserem Unglück begann es in großen Flocken zu schneien, was die
Sichtverhältnisse weiter verschlechterte und die Soldaten immer nervöser machte.
Zwischen den Bäumen war der Wind kaum zu spüren, trotzdem schlug er die Flut der
nassen Schneeflocken unangenehm in unsere Augen. Die Kleidung an uns wurde in
kurzer Zeit feucht. Über unsere Gesichter, unsere Hände und Beine rann kaltes
Schneewasser.
Die Soldaten, die in der über uns hereingebrochenen Finsternis bei jedem Astknicks
einen Fluchtversuch befürchteten, wurden immer wilder. Pausenlos schrien sie uns
an. Auf ein Kommando hin kamen sie aus dem Wald und gingen dann nur ein paar Schritte
entfernt neben uns her. Sie verteilten mit dem Gewehrkolben dumpfe Schläge auf
den Rücken der Langsameren und der um die Pfützen Herumgehenden. Wo blieb da schon
Disziplin und Fünferreihe? In unordentlichen Gruppen zusammengedrängt bemühten
wir uns zwischen den vielen, groben Begleitern die Beine in die Hand zu nehmen.
Auch der Hauptmann geriet in Eifer. Er ließ sein Pferd mitten unter uns springen,
und drosch mit einer frischgeschnittenen Birkenrute auf die sich erschrocken krümmenden
und zurückweichenden Gefangenen ein.
"Schneller!... Schneller!... Verfluchte Faschisten, euerer hurerischen Mutter...!"
keuchte er, zitternd vor Wut. Die Leute sprangen in panischer Angst vor dem sich
über sie türmenden, schnaubenden und stampfenden Hengst auf die Seite und aus
der Reichweite des tobend um sich dreschenden Hauptmannes. Ich ging am Rande der
Reihe, so entging ich seinem Prügel, wie auch irgendwie denen der Wachen, obwohl
es schwer war, unter meinen, auf dem höckerigen Pfad auseinander taumelnden und
strauchelnden Kameraden, die hagelnden Kolbenhiebe zu vermeiden.
Die an langer Leine gelassenen Hunde schnappten knurrend nach den Fersen der Nachzügler.
Sie sprangen auf den Rücken der Hingefallenen. Geifernd röchelten die wild gewordenen
Bluthunde, wenn die sie ständig hetzenden und aufpeitschenden Soldaten sie am
Halsband immer wieder zurückzerrten. Die Klagerufe, das Schluchzen aus unseren
Reihen, das unartikulierte Geschrei um uns herum, das tollwütige Gekläff und Gejaule
der Hunde hinter uns, verstärkten sich zu einem greulichen und schauerlichen Stimmenchaos.
Wie von Sinnen nahm ich die Beine in die Hand, drehte meinen Kopf in alle Richtungen,
um mein Fell vor der rundherum drohenden Gefahr zu retten. Es gab Augenblicke,
wo ich glaubte, dass diese höllische Panik um mich herum keine Wirklichkeit, sondern
lediglich ein Alptraum war.
Und der Schnee fiel pausenlos und lautlos auf Begleiter, Hunde und Gefangene gleichermaßen.
Der schlafende, bewegungslose Wald duldete diese Ruhestörung stumm. Das Stimmengewirr
löste sich in Nichts auf und verhallte im Dickicht der Bäume, hinter dem Schneevorhang.
Kein Außenstehender war Zeuge dieses martervollen Leidensgangs. Selbst die wilden
Tiere flüchteten wohl mit scheuer Furcht unter dem Schleier der Nacht aus der
Gegend, in ruhigere, menschenleere Gebiete.
Das pausenlose Gehetze, Ausrutschen, Fallen und Stolpern erschöpfte uns alle völlig.
Mit den Jungen ging es noch gerade so. Wir duldeten und schleppten uns mit unserer
aus der Ukraine mitgebrachten, restlichen Kraft dahin. Aber die Älteren! Sie waren
schon an der Grenze der endgültigen Erschöpfung. Taumelnd, sich an die Jüngeren
klammernd ließen sie sich fast nur noch ziehen auf dieser "Straße der Märtyrer"
im Nord-Ural... Die Hunde fletschten gnadenlos die Zähne, bellten pausenlos, hechelten
hinter uns her. Mit heiserem Aufschrei flüchtete vor ihnen, wer zufällig zurückgedrängt
wurde in der einander niedertretenden, auch ungewollt einander schubsenden Menge.
"Davaj! Davaj!" riefen die Soldaten. Sie deuteten jeden Stolper als den Sprung
eines flüchtenden Häftlings. Wild ballerten sie in die Luft.
"Bosche moj! Bosche moj! Natschalnik, erbarme dich unser!" wehklagten und
weinten die Alten. Es gab kein Erbarmen. Wer hinfiel, der wurde durch Fußtritte
und die auf ihn gehetzten Hunde gezwungen, wieder auf die Beine zu kommen. Wer
noch die Kraft dazu aufbrachte, zog und schleppte die Fallenden mit. Feri und
ich klammerten uns aneinander. Wenn auch müde, doch mit Ausdauer schritten und
rutschten wir unter den Anderen dahin. Wenn wir im Wirrwarr voneinander gerissen
wurden, versuchten wir wieder zusammen zu kommen und schützten und ermutigten
einander.
Trotz aller Bedrängnis, Prügel, Schimpfen und Drohen verlangsamte sich der Zug
immer mehr. Es nützte nichts mehr. Der Gegenhall auf die schallenden Rufe der
Wachen und des Prasseln der Gewehrkolben aus unseren Reihen wurde immer spärlicher.
Das Wehklagen und Flehen verstummte. Schließlich kamen wir aus dem Dickicht des
Waldes heraus. Wieder schleppten wir uns zwischen irgendwelchen beackerten Feldern
vorwärts, im knöcheltiefen Schlamm, mitten durch die matschigen, von niemandem
mehr umgangenen Pfützen und Wasserlachen hindurch.
Der Schneefall wurde von Schneeregen abgelöst. Unsere durchnäßten Hosen klebten
an den Beinen. Wir hatten keine Handbreit trockene Lumpen an uns mehr. Der Regen
troff auch uns in den Kragen und auf den Rücken. Die an den Schuhen klebenden
Tonklumpen erschwerten zusätzlich das Vorwärtskommen der todmatten Menschen.
Die Wachen fingen an das langsam dahintrottende, still gewordene Menschenrudel
zu vertrösten. Sie redeten uns zu, getrost durchzuhalten, da wir bald am Ziel
seien! Wir hörten den Versprechungen und schönen Worten ohne Antwort zu. Wir glaubten
nicht daran.
Unser Weg führte uns wieder durch Wälder, die Finsternis wurde unter den Ästen
der riesigen Bäume noch undurchdringlicher. Es gab keine Spur einer menschlichen
Siedlung.
"Natschalnik! Lass uns ein wenig rasten!" ertönte von hier und da ängstlich
gestammeltes Flehen.
"Es geht nicht! Wir kommen bald an, dann könnt ihr euch ausruhen!" schlug
der Hauptmann, stolz zu Pferde, wieder und wieder unser Flehen ab. Auch sein Pferd
zog die Hufe mühsam aus dem klebrigen Schlamm, kaum hätte er es noch zum Traben
bewegen können. Der der Prügelei müde gewordene Hauptmann hatte im Grunde Recht.
Wenn er diesem erschöpften, halbtot gehetzten Transport erlaubt hätte, sich auf
das nasse, eisige Fallaub zu setzen, hätte es keine menschliche Gewalt gegeben,
ihn binnen Kurzem wieder auf die Beine zu bringen. Gehen, gehen musste man! Gehen,
gehen... Dulden und auch unsere letzte Kraft einsetzen.
Es hörte auf zu regnen, die unter den Bäumen entlanghuschenden Begleiter wurden
auch still. Einzig das Quatschen des Schlammes und das Schnaufen und Ächzen der
ermüdeten Menschen war allenthalben zu hören.
Man hatte sich in Solikamsk wahrscheinlich mit dem Abmarsch gründlich verrechnet.
Wir waren schon reichlich verspätet und hätten uns viel früher auf den Weg machen
müssen.
Dank der den Begleitsoldaten vor dem Losziehen erteilten Anweisungen, oder besser
gesagt Einschärfungen, wobei die Geister sehenden und sehen lassenden Politoffiziere
die Menge der seelisch gebrochenen Häftlinge als zu Allem bereite, niederträchtige
Banditen hingestellt hatten, hatte die Wachen samt ihrem betagteren Befehlshaber
bei der hereinbrechenden Dunkelheit eine panische Angst vor uns befallen. Tatsächlich
waren Angst und Sorge der Soldaten die Ursache für ihre Antreiberei und den hysterischen
Alarmzustand. Der Einsatz war nicht gering. Es ging immerhin um die persönliche
Freiheit der Wachen! Wenn ein politisch Verurteilter entflieht, muss sich einer
der Wachsoldaten dafür verantworten. Angeklagt der Teilnahme am Verbrechen, der
Sabotage, wird er uns für zehn, fünfzehn Jahre zugesellt. Verständlich, dass sie
auf jede ihnen verdächtigt scheinende Bewegung hin getobt hatten!
Als wir aus dem Wald wieder auf irgendeine Wiese kamen, blinkten in einer Biegung
winzige, vibrierende Lichtpunkte in weiter Entfernung vor uns auf. Einladende,
verlockende Lichter einer Siedlung. Auch die Wachen wurden es gewahr. Sie vertrösteten
die erwartungsvolle Schar mit der Verheißung des nahen Zieles. Die Entfernung
aber war trügerisch. Wir gingen und gingen, aber die Lichtpunkte kamen nicht näher.
Sie verschwanden sogar völlig vor uns, als wir unseren halblaut schimpfenden Wachen
hinterher dem kapriziös gewundenen Weg folgten.
Mit hängendem Kopf setzten wir unseren Fuß vor Fuß. Auch ich war schon sehr, sehr
müde. Ich hatte mehrere Probleme zugleich. Es fror mich, der Hunger meldete sich
wieder und alle Glieder taten mir weh, aber gleichzeitig war mir das auch alles
egal - als ob es gar nicht mein Körper war, der schmerzte, und mir nur die in
mir noch glimmende Vernunft es mir eingegeben hätte, dass ich litt.
Wieder führte unser Weg durch das Waldesdickicht ins Freie. Als der Hohlweg auf
den offenen Hügel mündete, öffnete sich, völlig überraschend, der Blick auf die
verstreuten Häuschen eines großen Dorfes. Einladend schimmerten die Lichter seiner
kleinen Fenster, als hätte der Sternenhimmel sich vor uns im Tal ausgebreitet.
Wir waren angekommen. Wir haben den Weg geschafft, der für diesen Tag vorgeschrieben
war. Die Gemeinde hieß Tatarka.
Das äußerste Haus des Dorfes diente auf dem Weg zwischen Solikamsk und den umherliegenden
Lagern als Raststätte. Das geräumige Blockhaus war schon zur Zarenzeit für diesen
Zweck erbaut worden. Man nutzte es - seiner ursprünglichen Bestimmung entsprechend
- erstaunlicherweise auch in der modernen Zeit. Nur wurde der Bestand der darin
beherbergten Häftlinge seither erheblich größer. Es erwies sich für die Unterbringung
eines Transports bald als zu eng, dank den eifrigen Vollziehern der stalinschen
Säuberungen! Die "Gefangenenschutzhütte" war ein den dortigen Baugewohnheiten
entsprechendes Etagenhaus. Das obere Stockwerk diente als Wohnung des Heimleiters.
Die Hausbewohner haben wir während unseres dortigen Aufenthalts nicht zu Gesicht
bekommen. Im Allgemeinen benutzt man dort im Norden das Erdgeschoss als Stall.
Das Erdgeschoss dieses Hauses war für uns eingerichtet, das heißt, leer, ohne
Krippen.
Wir waren ein bisschen zu viele in dem mit Bretterwänden in mehrere Räume aufgeteilten
Erdgeschoss. Aber man presste uns alle hinein, bis wir uns fast nicht mehr rühren
konnten. Draußen lassen konnten sie ja niemanden. Die Kälte war nicht das Problem,
aber es hätte irgendein tolldreister Faschist verlorengehen oder entfliehen können!
Die Eingangstür wurde nicht zugemacht, sonst wären wir vor der Luftmangel erstickt,
denn die Parterrefenster des Gebäudes hatte man verbrettert. Vielleicht taten
das schon dessen Erbauer. Wir fühlten keine Kälte trotz der offenen Tür, als wir
dort übereinander kreuz und quer zusammengedrängt, mit gefühllos gewordenen Gliedern,
in ohnmächtigen Schlaf versanken.
Die Wachmannschaft stellte sich mit auf uns gerichteten Gewehrläufen in die Tür.
Sie befürchteten doch nicht etwa, dass jemand sich aufmacht und in einem unbewachten
Augenblick in die stockfinstere Nacht hinausschleicht! Selbst unsere Ganoven blieben
in dieser Nacht still. Der Marsch hatte auch ihnen gereicht...
"Auf zum Abendessen!" rüttelte man uns irgendwann, mitten in der Nacht auf.
Waren wir auch noch so betäubt, die Verheißung von Essen stellte die ermattete
Gesellschaft auf die Füße. Wir drängten aus dem Haus hinaus. Im Garten stand unter
einer mächtigen Birke ein bauchiger Kupferkessel auf offenem Feuer. Ein weißgeschürzter
Soldat rührte das dampfende Essen um.
Ich weiß gar nicht mehr, wie lange ich schon keinen Sternenhimmel gesehen hatte.
Ich schaute, alles um mich herum völlig vergessend, das windstill und rein gewordene
Himmelsgewölbe an. Solche glühenden, glänzenden Perlen ähnlichen Himmelskörper
kann man nur im Norden sehen. Bei dieser ersten Begegnung hat mich der ungewöhnliche,
glanzvolle Anblick fasziniert. Unabhängig davon war es eigentlich nicht der rechte
Zeitpunkt, die Sterne zu erforschen. Wenn ich den gestirnten Himmel anschaue,
suche ich immer zuerst den Himmelswagen als alten, guten Bekannten. Dort hatte
ich jedoch keine Zeit dazu, denn es wurde mit ungeduldiger Antreiberei ein Antreten
mit Front zum Kessel angeordnet.
Wir versuchten uns so weit wie möglich nach vorne zu drängeln um möglichst bald
zur Essensausgabe zu kommen und anschließend im Haus weiterschlafen zu können.
Auch in mir erwachte der Lebensdrang, so schützte auch ich mich mithilfe meiner
Ellbögen, um nicht ganz nach hinten gedrängt zu werden - vielleicht bleibt für
den Letzten keine Suppe übrig, und auch kein Platz zum Liegen in dem eng begrenzten
Stall.
Man hatte Schrotsuppe für uns gekocht. Es schwammen Fischgräten darin herum, auf
der Oberfläche trieben in Öl geröstete Zwiebelstengel. Das Essen war dünn und
geschmacklos. Sein einziger, nicht zu unterschätzender Vorteil war, dass es warm
war. Nur so, ohne Löffel, schlürften wir die Brühe aus und verschwanden eilends
aus der Nähe des Kessels. Wir ratschlagten darüber, dass man uns beim Wegziehen
auch irgendwelche Fische versprochen hatte. Wann werden die wohl verteilt? Die
müssen dann zwar ohne Brot gegessen werden, aber das macht nichts, hinunterwärts
werden sie schon von selbst rutschen!
Ich stolperte ins Haus zurück, und sank wieder auf den Boden. Vielleicht schlief
ich ein, bevor mein Kopf auf jemandes Rücken, Fuß oder Seite gelandet war. Bestimmt
wurde ich noch eine Zeitlang von den Spätkommenden herumgestoßen und getreten,
wenn der Platz nicht ausreichte. Ich spürte nichts. Meinem abgespannten Körper
war alles egal.
7. Oktober 1946
Frühmorgen wurde der Transport aufgescheucht. Am Himmel oben glänzten noch die
Sterne, aber der östliche Horizont lichtete sich schon auf. Man stellte die Kolonne
auf dem Weg vor dem Haus zu fünft auf. Wir wurden gezählt, ob wir auch alle vorhanden
waren. Um sicher zu gehen, schauten sie noch in den Stall hinein, obwohl der Bestand
stimmte.
Ich beobachtete das Treiben der Wachmannschaft um uns. Nirgends wurde der versprochene
Fisch gebracht. Wo wollen sie ihn verteilen? Bei der nächsten Rast, unterwegs?
"Du bist ganz unsinnig!" stellte Feri fest. "Wurde denn die Suppe in
der Nacht nicht mit Fisch gekocht? Dort war doch sowohl deine große Fischportion,
als auch meine, in jenen paar Fischgräten, die wir ausspuckten. Aber sicher!"
fügte er noch hinzu, als ich ihn misstrauisch anblinzelte.
Vor lauter Muskelkater wusste ich nicht, auf welches Bein ich mich stellen soll.
"Wie werde ich wandern?" sinnierte ich bei mir selbst.
"Marsch! Marsch!" riefen die Bewacher, und schon war ich gezwungen zu zeigen,
wie ich weitermarschiere.
Ungefähr in der Mitte des Dorfes stand eine verlassene Holzkirche. Ihr Dach war
eingestürzt. Vor der verschlossenen Kirchentür mit verrosteter Klinke waren die
Treppenstufen verrottet. Die Büsche des Kirchengartens waren zu Gestrüpp verwildert.
Die Wachen waren ruhiger, als am Abend zuvor. Einige ermunternden Kommandos, sonst
nichts. Wortlos, mit gebeugten Köpfen marschierten wir Waldweg entlang, das verschlafene,
menschenleere Dorf hinter uns lassend. Bevor noch die Sonne aufging, verdüsterte
sich der Himmel. Der auflebende Wind trieb Schneewolken über uns. Es flogen zwar
einige Flocken, aber um einen Schneefall oder Schneeregen kamen wir an jenem Tag
herum.
Auf einem Hügel führte uns unser Weg durch ein kleines Bergdörfchen. Die aus zehn,
zwölf Häuser bestehende Siedlung war menschenleer. Vielleicht waren alle wegen
uns in die Häuser hineingetrieben worden? Ich weiß es nicht. Nicht einmal durch
Zufall sahen wir einen Lebenden. Auch das fiel auf, dass es auf der grasbewachsenen
Fläche zwischen den verstreuten Häusern es keinerlei Radspuren gab. Sie mögen
so arm gewesen sein, dass sie nicht einmal Arbeitstiere hatten. Nur auf dem die
Siedlung durchschneidenden schlammigen Weg sahen wir Gummiradspuren von Lastwagen
und Zugmaschinen.
Eine große, schwarze Katze lief vor uns über die Straße. Geräuschvoll kletterte
sie an der Balkenwand des nächsten Hauses hinauf, und verschwand unter der Dachrinne.
Die Abergläubischen fluchten, beschimpften das arme Geschöpf! Als ob es die Ursache
unseres Missgeschickes gewesen wäre. Jene scheue Katze wird ausschließlich daran
schuld sein, wenn unsere geringen Hoffnungen an unserer neuen Station nicht verwirklichen
werden.
Die Russen machten mich auf die neben der Eingangstür der Häuser geschnittene,
mit einem Brett zugeschlossene Fensteraussparung aufmerksam. In der alten Welt
war es Gewohnheit, in jenes Fenster abends ein Stück Brot und einen Topf Milch
hinauszulegen. Wenn ein Wanderer durch das Dorf zog, brauchte er nicht anzuklopfen
und um Speise zu bitten, wenn die Abenddämmerung hereinbrach. Er zog lediglich
das äußere der doppelten Bretter weg, und verzehrte das Abendmahl. Den leeren
Topf tat er schön in die Fensteraussparung zurück, zwischen die zurückgeschobenen
Bretter. Und dann konnte er irgendwo im Schuppen oder in der Scheune schlafen.
Wenn die Hausfrau des Morgens das Fenster leer vorfand, wusste sie, dass ein hungriger
Wanderer vorbeigekommen war. Sie bekreuzigte das leer gewordene Gefäß, und wünschte
dem Wanderer der Straßen, der zu dieser Zeit schon weit entfernt war, in Gedanken
eine glückliche Reise.
"Heute ist es freilich nicht mehr so!" machten meine Kameraden mit der Hand
eine Bewegung. "In der heutigen Welt sind sie froh, wenn sie selbst etwas
zu essen haben, nicht dass sie noch jedem hergelaufenen Vagabunden einen Imbiss
bereitstellten! Wenn ein Fremder im Dorf erscheint, sind sie verpflichtet, es
dem Milizisten zu melden. Jetzt gibt es kein zielloses Umherwandern mehr, kreuz
und quer durch Russland, keinen Bittgang, kein Arbeitssuchen, und der gleichen,
wie einst... Es ist aus mit den vielerlei heiligen Menschen, Wallfahrern und sonstigen
Bummelfritzen. Ihnen wurde dieser typisch russische Volksbrauch mit Wandertasche
und beschäftigungsloser Lebensweise abgewöhnt."
Wenn zwischen den Dörfern ein einsamer Wanderer umherginge, wäre es bestimmt ein
aus einem Lager geflüchteter Häftling. Die Einwohnerschaft würde ihn sogleich
den Behörden ausliefern. Zwei Zentner Weizen ist das Blutgeld, keine Kleinigkeit
in diesen dürftigen Nachkriegsjahren!
An tiefergelegenen Stellen zogen sich, manchmal mehrere hundert Meter weit, geländerlose
Brücken aus quergelegten Tannenholzbalken hin. Dann gingen wir über sumpfigem
Morast. Wenn jemand unversehens in das trügerische Grasenmeer tritt, versinkt
er unrettbar in dem eisigen Schlamm. Das dumpfe Dröhnen der Holzbrücke unter den
vielen hundert Füßen erinnerte mich irgendwie an die zweiwöchige Waggonreise.
Erfasste mich die Sehnsucht nach dem trockenen, harten Boden, der genauso dröhnte
unter den Tritten, wie diese Brücke, aber auf welchen ich jederzeit runterfallen
konnte, wenn meine blaugefrorenen Füße vom Herumstehen müde geworden waren. Dass
ich mich auch jetzt gleich in jenem zugigen Gefährt ausstrecken könnte! Hätte
ich nichts dagegen, wenn man seine Seitenwand auch pausenlos behämmern würde -
nur liegen können, liegen mit ausgebreiteten Händen und Füßen, unbeweglich...
Aber hier muss man treten und treten, in dem schwindelerregend schlingernden Dickicht
der gebückten Rücken vor mir, getrieben von den Schritten der nach mir Kommenden.
Der kurze Wintertag neigte sich wieder seinem Ende zu. Es gab noch kein Anzeichen,
dass wir irgendwo ankommen würden. Von dem pausenlosen Marschieren verspürte ich
Stiche in meiner Leiste. Manchmal dachte ich: "Noch ein Schritt, und ich
falle um". Ich habe keine Ahnung, wie die Betagteren sich schleppen konnten? Vielleicht
verlieh ihnen das zu Knurren vertiefte Winseln der bellenden Hunden die Kraft
dazu? Ich wusste es nicht. Aber niemand blieb allzu weit hinter der langgezogenen
Kolonne zurück. Das Gehen auf den Holzwegen über den Sümpfen war noch ermüdender,
als auf den Hügeln. Mühsam stolperten wir über die unter den Raupenbänder der
Zugmaschinen zersplitterten Balken.
Wir zogen über eine Steinbrücke hinüber. Der Bach floss tief unter uns, in einem
buschigen, grasigen Tal, dahin. Jenseits der Brücke erblickten wir, inmitten der
Bäume, ein weißgetünchtes Gebäude. "Soll das etwa bedeuten, dass wir angekommen
sind?" spähten wir um uns, fieberhaft forschend unter den Bäumen, um vielleicht
die heiß ersehnten Wachtürme und den Stacheldrahtzaun erblicken zu können. Das
gerade eben entdeckte Gebäude war jedoch ein Lebensmitteldepot. Als wir an ihm
vorbeigezogen waren, schlug mein Herz höher: vor uns, am gegenüberliegenden Hang,
tat sich das Panorama eines Lagers auf!
Wie auf einen Zauberschlag waren wir alle elektrisiert, und beschleunigten, den
vor uns trottenden Wachen zu schnellerem Gang genötigt, unseren Kräften entsprechend,
die Schritte. Wir marschierten geradewegs aufs Lager zu. Nach Überquerung des
Dammes einer schmalspurigen Industrieeisenbahn rückten wir in mehrere Kolonnen
auf und machten vor dem Gittertor halt.
Über dem Zaun lugte das Holzschindeldach eines länglichen Barackgebäudes hervor,
ganz wie in Solikamsk. Sehnsuchtsvoll schauten wir nach den blauweißen Rauchfähnchen,
die über den Kaminen hingen. Der Rauch des Kamins ist für den ermatteten, durchgefrorenen
Menschen genauso erregend, wie der Speisegeruch für den Hungrigen. Noch dazu erinnerte
der Qualm uns auch ans Essen, an die gute, heiße, dampfende Suppe! In Gedanken
wärmte ich mich schon fast in der trockenen Baracke, auf den Brettern fröhlich
ausgestreckt oder gar auf einer Matratze - egal, aber ans Ziel gelangt! Auf Grund
meiner lebhaften Phantasie hörte ich förmlich das fröhliche, freundliche Prasseln
und Summen des Feuers am Wärme ausstrahlenden, breiten Ofen. Von drinnen aus schaute
ich auf die sich im Winde wiegenden Bäume und hörte dem vergeblichen Kampf des
über dem Schornstein brausenden Windes zu. Aus meinen Träumereien gerissen, wurde
ich mit der Wirklichkeit konfrontiert: keine Baracke, keinerlei Wärme, nur Kälteschauer
durchrannen meinen Körper! Ich hörte das Brausen des Windes nicht hinter geschützten
Wänden, sondern spürte ich seine eisige Umarmung unmittelbar auf meiner Haut!
Auf einmal wurde die Kälte unerträglich. Fröstelnd stöhnte ich in der dünnen Kleidung
und klapperte in meiner Ohnmacht mit den Zähnen.
Es schien, als stünden wir auch hier schon seit unvordenklichen Zeiten vor dem
geschlossenen Tor. Keinerlei Regung, kein Anzeichen dafür, dass man unsere Ankunft
bemerkt hätte und endlich gewillt wäre, uns zu übernehmen... Ich weiß nicht wie
lange wir von einem Bein aufs andere schwankend - zum Hüpfen reichte unsere Kraft
nicht mehr - vor dem bockig tauben und stummen Tor gefroren haben, bis das geplagte
Volk des unerträglichen Wartens überdrüssig wurde, und die Geduld verlor. Wir
fingen an zu rufen und zu schreien, mal einzeln, mal in Chor:
"Natschalnik! Natschalnik! Nimm uns auf! Wir erfrieren!"
Ob auf das viele Rufen hin, oder weil es gelungen war, die zuständige Person zur
Übernahme aufzutreiben, nach langer Zeit erschien ein junger Leutnant vor dem
Tor. Er stellte sich vor uns hin, und gab uns zu verstehen, seine Worte mit breiten
Bewegungen begleitend, dass man uns hier nicht übernehme. Dies sei ein Zentrallager
im Sminsker Lagerbezirk, und wir würden von hier, so wie wir hier stehen, umgehend
in ein anderes, zum Bezirk gehörendes Lager namens Dolgaja weitergeleitet.
"Wohin? Wohin?... Wir gehen nirgendhin! Übernimm uns!" fuhren wir fort verzweifelt
zu rufen.
"Es ist nur zwölf Kilometer von hier, ihr seid bald dort. Dort wird die Etappe
mit warmen Baracken empfangen!" versuchte der in Schafpelz steckende Offizier
die erhitzten Gemüter zu beruhigen.
"Wir gehen von hier keinen Schritt weiter! Nicht einmal treten können wir!
Es sind Alte und Kranke unter uns! Übernimm uns oder wir erfrieren hier!" ertönte
aus den Reihen eine Flut von Aufrufen mit zustimmendem Brausen begleitet.
Nachdem wir schon geglaubt hatten, dass wir nach dem langen Marsch ans Ziel gekommen
waren, fühlten wir uns nicht mehr imstande, den Zusatzweg von zwölf Kilometern
- wer weiß, ob wirklich nur so viel - durchzuhalten.
Die Offiziere steckten den Kopf zusammen. Sie beratschlagten lebhaft. Auch unser
Hauptmann bekräftigte dem zögernden Leutnant etwas recht eindringlich. Als wir
das sahen, verlegten wir uns wieder aufs Bitten - gibt es vielleicht doch noch
ein Herz unter dem Dienstrock!
"Natschalnik, übernimm uns! Erbarme dich unser! Natschalnik!"
Schließlich forderten sie Ruhe und teilten uns mit, dass in Kürze ein Eisenbahnzug
kommen werde, auf dem wir die restliche Strecke zurücklegen würden. Aus Platzmangel
hätten sie selbst keinesfalls die Möglichkeit, uns zu übernehmen. Und überhaupt,
in Dolgaja erwarte man uns schon mit beheizten Baracken. Zwar murrten wir, aber
man konnte an der Lage nichts ändern. So erwarteten wir schicksalsergeben die
weitere Entwicklung.
Nach einer kleinen Weile bog tatsächlich hinter dem Hügel eine kleine, fauchende,
dampfende Lokomotive hervor. Wenn es auch leicht übertrieben scheint, aber sie
erinnerte uns auch ungewollt an eine Kaffeemühle. "Damit will er uns allesamt
zwölf Kilometer weit ziehen lassen?" schauten wir das holzbeheizte, kleine Ding
ungläubig an, welches fünf oder sechs offene Plattformwägen mit großem Geklirr
hinter sich herzog.
Die Gemüter beruhigten sich, und wir wandten dem heiß ersehnten Tor den Rücken.
Einander schiebend, drückend und stoßend kletterten wir auf die bereiften Plattformen
hinauf. Wir drückten uns zusammen, damit jeder Platz bekam. Auf der letzten Plattform
nahmen die Wachen Platz, und der Hauptmann gab das Zeichen zur Abfahrt. Nach einigen
schneidenden Pfiffen kam der kleine Waldbahnzug mit leichtem Rucken in Bewegung,
welchen wir auf den ersten Blick so abschätzig beurteilt hatten. Hätten wir nur
gewusst, was für Gewichte zu transportieren er fähig war, und wie viele mühevoll
unter Schmerzen ausgehauene Blöcke er nach uns noch zum Ufer der Kama befördern
würde!
Das Pferd des Hauptmannes wurde neben dem Zaun des Zentrallagers entlang am Halfter
weggeführt. Er durfte dort bleiben, für ihn war der Ausflug zu Ende.
Zwischen wildromantischen Wäldern schlängelte sich der Weg. Schönere und schönere
Landschaften zogen, einander ablösend, neben uns vorbei, aber niemand ergötzte
sich an deren romantischer Schönheit. Wir sahen nur die vom Wasser triefenden
Äste, sumpfigen Täler und erstickende Nebel darin. Wir waren schon davon satt,
obwohl wir noch nicht viel Brot hier, "im Herzen" des Ural, gegessen hatten.
In kurzer Zeit erreichten wir unseren Bestimmungsort. Dieses Lager glich aufs
Haar dem anderen, woher wir uns eben weggemacht hatten. Als hätten wir nur die
einigen Hügel umfahren, und wären wieder dort angekommen. Auch dieses Lager befand
sich am Hang eines Hügels, und im Tal darunter zogen sich die Bahngleise hin.
Auf der Lichtung vor dem Lager schwärzten überall morsche Baumstümpfe in dem verwelkten
Gras. Man hatte diesen Platz erst vor ein paar Jahren dem Urwald, der Taiga, abgerungen.
Eine dorfähnliche Siedlung umgab das Lager im Halbbogen. Die Wohnhäuser der Offiziere,
die Kasernenbaracken der Soldaten und sonstige Gebäude: Bad, Klub und Büro für
das administrative und militärische Personal des Lagers.
In der Abenddämmerung krochen wir von den Plattformen herunter. Mein eingeschlafener
Fuß wollte kaum gehorchen. Meine Knie zitterten. Ich fürchtete vor Erschöpfung
auf die Nase zu fallen. Kaum konnte ich über die aus der Erde herausragenden Wurzeln
steigen. Am liebsten hätte ich die Hindernisse umgegangen, obwohl jeder Schritt
mir weh tat.
Leidlich in Fünferreihen geordnet schleppten wir uns zum Tor hinauf. Dort brauchten
wir nicht mehr lang auf Einlass warten. Der Transport wurde einmal abgezählt,
danach konnten wir ohne Namensaufruf und sonstigen Klimbim durch das weit geöffnete
Tor in das Lager hineinmarschieren, besser gesagt hineintaumeln. Der Kommandant
erwartete den verzagten Transport am Tor. Er verteilte so ungefähr die Gesellschaft
auf die verschiedenen Baracken.
Nach Überwindung der drei Holzstufen der für uns zugewiesenen Baracke kamen wir,
etwa in der Mitte der Baracke, in einen dunklen Vorraum hinein. Rechts und links
führten Türen in geräumige Wohnräume. Ich trat mit Feri nur so aufs Geratewohl
rechts in den Raum, "Sekzija", wie man dort die Wohnräume geheißen hatte,
ein. Es war angenehm warm dort. Holzpritschen, "Wagonjetken", für jeweils
vier Mann reihten sich der Wand entlang. Zwar erwarteten uns bloße Bretter ohne
Bettwäsche, es war aber für jedermann ein extra Liegeplatz vorhanden! Die Bettwäsche
wäre überflüssiger Prachtaufwand gewesen. Wir dachten gar nicht an sie. Die hatten
wir auch bisher meist nur in Krankenhäusern genießen können. Unverzüglich streckten
wir uns auf den nächsten freien Pritschen aus. Es leuchtete lediglich das aus
dem Ofen strahlende Licht, denn die Stromversorgung für die Wohnbaracken war noch
nicht eingeschaltet.
Die Holzpritschen für 4 Personen stellten sich als bisher unbekannte aber zweckmäßige
Liegeplätze heraus. Es waren unten und oben je zwei Plätze nebeneinander, durch
eine Haltelatte getrennt. Zwischen den Wagonjetken gab es schmale Abstände, so
hatte ein jeder zu seiner eigenen Nackenstütze, dem Kopfkissenersatz, Zugang gehabt.
Nicht so, wie auf den umlaufenden, zusammengefügten Pritschen, wo man nur übereinander
kletternd auf seinen Platz kommen konnte. Abgesehen davon, dass dort niemand genau
wusste, wie weit sein Platz reichte, was Anlass zu ständigen Streitigkeiten und
kleinlichen Bretterbreiten-Ausmessungen gab.
Wir waren nicht die allerersten Einwohner im Sekzija. Unsere erst in den vorangegangenen
Tagen hier eingetroffenen Kameraden empfingen uns. Sie hatten die Übernachtung
im Tatarka und die sonstigen Torturen kurz vor uns, unter ähnlichen Umständen,
ertragen müssen. Bequem auf den Pritschen liegend hörten wir die bisherigen Erkenntnisse
und Eindrücke des ersten Transports an.
Sie erzählten, dass wir zusammen mit ihnen die erste Bevölkerung des Lagers seien.
Während des vergangenen Sommers hätte man die damaligen Bewohner des Lagers -
die wlasowschen Soldaten - auf Grund einer Amnestie freigelassen. (Tatsächlich
war das nur eine Legende, um uns zu täuschen.) Die frei gewordenen Gebäude waren
vor Kurzem instandgesetzt und jetzt erneut bevölkert worden - mit uns. Bezüglich
der uns erwartenden Arbeit und sonstigen Aussichten konnten auch sie noch nicht
viel sagen. Anhand der Tatsache, dass rundherum endlose Wälder lagen, brauchte
man nicht viele Phantasie, um den Grund zu ahnen, warum wir von so weit hierher
transportiert worden waren.
"Es macht nichts! Soll sein, wie es will!" räkelten wir behaglich uns auf
unseren, auf der Pritsche ausgebreiteten, unter uns trocknenden Lumpen. Nach so
viel Mühsal und Enge konnten wir uns das erste Mal wieder ruhig ausziehen und
unsere Hände und Füße nach Belieben ausstrecken. Das Bewusstsein, dass wir angekommen
waren und die Reise, das Etappenleben zu Ende war, bedeutete ein sehr gutes Gefühl.
Als ob wir ein bisschen heimgekommen wären!
Heim! Der Gedanke schnitt schmerzlich in mein Herz, wie weit mich das Verhängnis
von meinem geliebten ungarischen Vaterland entfernt hatte! Ich hütete mich bei
diesem Thema zu verweilen, denn ich befürchtete, dass das aufkommende Heimweh,
hier im gottverlassenen Norden, im endlosen Urwald, mir das Herz zerreißt.
Feri besetzte die untere Pritsche neben mir. Wenn wir dann in Brigaden eingeteilt
werden, werden wir Zeit haben, uns einen guten oberen Liegeplatz zu beschaffen.
Wir schliefen nach einigen zufriedenen Worten ein. Die Wärme tat so gut, dass
selbst der unseren Magen bedrückende Hunger uns nicht wachhalten konnte. Wir waren
recht erstaunt, als wir aufgerüttelt wurden, um abendessen zu gehen!
"Abendessen?" setzten wir uns verwundert auf. "Das steht uns ja noch
gar nicht zu! Gestern zum Mittag bekamen wir Speise für drei Tage, selbst morgen
bekommen wir noch kein Essen!"
"Der Ruf zum Abendessen betrifft alle. Auch wir bekamen es gleich am Abend
der Ankunft, obwohl auch wir für drei Tage versorgt wurden in Solikamsk", sagten
die "Alten".
"Also wenn es so ist, können wir unbesorgt sein!" Wir machten uns schnell
auf und gingen mit den Anderen. Im geräumigen Esssaal nahmen wir erwartungsvoll
an einem der mit einer Glasscherbe blank gekratzten, langen Tische Platz. Wessen
Holzlöffel noch nicht infolge der Unbilden der Reise zerbrochen war, der legte
ihn vor sich hin, auf den Tisch. Auch ich hatte ihn noch. Um das Essensverteilen
reibungslos abzuwickeln, durfte niemand vom Tisch aufstehen. Man stellte einen
Teller mit Hafergrütze gekochte, recht dicke Krautsuppe und 30 Deka Brot vor uns.
Wir wurden davon nicht satt, aber weil wir laut Ukas noch zwei Tage mit keinem
Essen rechnen durften, war dieses Abendessen in unseren Augen ein Geschenk. Der
neue Hausherr tat sich auf eine unverhoffte Weise, nobel hervor. Daran waren wir
bis jetzt nicht gewöhnt. Mit zufriedenem Gemurmel verzogen wir uns auf die Pritschen,
die wir vorher besetzt hatten.
Forschend sah ich mich im Halbdunkel um, wer von den Bekannten sich in diesen
Saal einquartiert haben mochte? Der einzige nahe, gute Freund, den ich nach etlichem
Umherschauen entdeckte, war Salter aus unserer chersonischen Brigade. Er lag nicht
weit von uns, auf der gegenüberliegenden Pritsche. Ich ging zu ihm, um einige
Worte mit ihm zu wechseln. "Vielleicht kann er etwas Vertrauenerweckendes
sagen?" dachte ich bei mir. Salter lag auf dem Rücken, und betrachtete die grob
gehobelten Bretter des oberen Liegeplatzes nachdenklich. Seine Hände hatte er
unter seinen Kopf gelegt. Ich setzte mich auf den Rand der Pritsche.
"Wie geht es dir, Salter?" begann ich das Gespräch.
"Ah, bist du es, Ungar?" lächelte er, als er mich erkannt hatte. Er lehnte
sich auf, und zog seine Füße unter sich. "Wie es mir geht? Wie dem Affen
auf dem Schleifstein!"
"Was denkst du, wird es hier erträglich sein?" fragte ich hoffnungsvoll,
seinen vorherigen Spruch absichtlich als Scherz missverstanden.
"János, erwarte nichts Gutes... Ein Holzbuschlat werden wir alle hier kriegen...",
sagte er ahnungsvoll. Das Lächeln verschwand aus seinem Angesicht. Der Widerschein
des aus dem Ofen herausstrahlenden Feuers glänzte in seinen mir zugewandten Augen.
Er schaute mich sehr ernst an. Als hätte er noch etwas sagen wollen, aber dann
machte er eine resignierte Handbewegung, und wandte seinen Blick ab. Er glotzte
in die Dunkelheit des Raumes hinein.
"Deiner Meinung nach verspricht dieses Lager nicht viel Gutes?" zapfte ich
ihn kleinlaut geworden an, denn ich hatte das Gefühl, dass er etwas wusste, was
ich nicht einmal ahnte. Die Russen konnten in Kenntnis der heimischen Verhältnisse
aus bestimmten Erscheinungen oder fallengelassenen Worten, deren Bedeutung ich
vielleicht gar nicht kannte, besser folgern, und ich versuchte immer mir Aufschlüsse
von ihnen zu verschaffen.
"Du wirst sehen!..." lehnte sich Salter in seine vorherige Unbeweglichkeit
zurück, und streckte sich in voller Körperlänge auf dem Brett aus.
Wie vor den Kopf geschlagen ließ ich den unlängst noch lustigen Kumpanen allein.
Die Aussichten können nicht besonders gut sein, wenn sogar dieser immer stimmungsvolle,
zu Scherzen aufgelegte Mensch so denkt... Ich berichtete Feri, wie übellaunig
Salter ist.
"Oh, man sollte nicht alles so schwarz sehen! Es gefällt ihnen nicht, dass
sie demnächst kein Paket erhalten werden. Jetzt probieren sie es wenigstens aus,
wie gut es uns auch bisher ging!" hielt Feri meinen Zweifeln entgegen.
"Also gut, mein Feri! Möge es für uns nicht noch schlimmer werden!" zog ich
die Wattejacke über meinen Kopf. "Hoffen wir, dass sie uns noch einige Tage
nicht zur Arbeit hinaustreiben und uns vorher warme Kleider geben..."
"Seufze nicht so viel, schlafe! Es ging immer irgendwie, auch hernach wird
es irgendwie weitergehen!" sagte Feri unwillig, und drehte sich auf seine andere
Seite. Er mochte es nicht, wenn ich mir zu viel Sorgen machte.
Er schlief schon mit ruhiger Atmung, als ich noch immer wach, mit geöffneten Augen
auf meinem Platz lag. Von draußen tönte das Sausen des Windes herein, als er mit
wilder Raserei über den Kamin strich. Im Ofen verlosch allmählich das Feuer, verglimmte
die Glut. Langsam tauchten alle Pritschen in völlige Finsternis, samt den darauf
Schnarchenden und im Schlaf Plappernden. Auch von draußen kam kein Licht durch
den Doppelrahmen herein. Anscheinend werden wir hier im Norden auch keinen Mondschein
sehen, so wie wir auch die Sonne noch kein einziges Mal gesehen hatten.
8. Oktober 1946
Spät wurde geweckt. Es war schon ganz hell, als man uns aufforderte, zur Zählung
auf dem Hof anzutreten. Als wir aus der Baracke hinaustraten, ließ uns die ungewohnte
Helligkeit die Augen zusammenzwicken: Alles war von frischgefallenem Schnee bedeckt.
Die nackten Äste der neben dem Esssaal aufragenden Birke, die Wachtürme, der hohe
Bretterzaun um das Lager herum, die Barackendächer und den Hof bedeckte eine dicke,
frische Schneedecke. Das Geräusch von Schritten war nicht zu hören. Die Stille
läutete geradezu im Ohr. Der Schnee fiel gleichmäßig in völliger Windstille. Er
strömte ununterbrochen aus dem eintönig hellgrauen Himmel. Wenn wir nach oben
schauten, sahen wir Milliarden von kleinen, schwarzen Punkten abwärts flatterten,
und erst wenn sie nahe vor unsere Augen kamen, verwandelten sie sich in großen,
weißen Schneeflocken und vermehrten die wattenähnliche Winterdecke über der Landschaft.
Das unbeständige Wetter der bisherigen Tage löste auf einmal der endgültig zur
Ruhe gekommene Winter ab. Die Natur versank in einen tiefen Schlaf.
Frierend schritten wir in den nicht gerade saisongerechten Gummischuhen auf dem
Weg zum Tor. Die Nadsiratels befahlen Fünferreihe, um die Lagerinsassen ordnungsgemäß
abzuzählen. Unglaublich! Kaum vor einem Monat, sogar später noch, hatten wir schwitzend
in der prallen Sonne in Badehosen gearbeitet, dort irgendwo weit, weit im Süden...
Jetzt aber krümmten wir uns vor Kälte, und liefen nach der schnell abgewickelten
Zählung eilends in die gute warme Baracke zurück.
Die Kommandantur gestattete eine dreitägige, allgemeine Ruhe. Froh nahmen wir
die gute Nachricht zur Kenntnis... Auch das Frühstück war Krautsuppe, mit 35 Deka
Brot. Mit einem angenehmen Gefühl wälzten wir uns auf der Pritsche. Bekannten
riefen einander lustig aus einer Ecke des Zimmers in die andere zu:
"Wenn es auch hernach so weitergeht, werden wir den Winter schon irgendwie
aushalten!"
"Warte nur! Glaubst du, der Natschalnik hat dich zur Erholung hergebracht?
Du wirst so sägen, dass es ein Vergnügen sein wird, dir zuzusehen!"
Man erwähnte, dass der Kulturobmann des Lagers, Natschalnik K. V. Tsch., von Baracke
zu Baracke ging. Aufgeworfene Fragen und Probleme beantworte er ausführlich. Als
der bleichwangige Kulturleiter im schwarzen Mantel während des Tages auch zu uns
hereinkam, drängten wir uns in der Mitte des Sekzija um ihn. Mit offenem Munde
erwarteten wir seine Antworten auf die gestellten Fragen. Ich selbst hätte gern
gehört, wie die Versorgung sein wird, wann es Winterbekleidung geben wird? Die
Tonangeber begannen aber die Erkundung damit, ob man Briefe schreiben, Pakete
erhalten und innerhalb welcher Zeit der Kontakt mit dem Zuhause verwirklicht werden
kann?
Auf die ersten zwei Fragen antwortete der fromm aussehende Natschalnik mit leisem
Ja, auf die Dritte, wann die erste Nachricht von Zuhause eintreffen könnte, zog
er mit saurer Miene die Achseln hoch.
"Und wo kann man sich zum erlaubten Briefwechsel Papier und Bleistift erwerben?
Beschaffen? Wir haben ja überhaupt kein Geld!" tauchte das nächste Problem auf.
"Weiß ich nicht", sagte der vom ganztägigen Frage-und-Antwortspiel sichtlich
ermüdete Natschalnik unsicher. Dass er im Grunde gar kein Natschalnik war, erfuhren
wir erst später. Der gute Mann war auch ein Verurteilter, wie wir, nur nicht durch
einen politischen Paragraphen, sondern er hatte unterschlagen oder sonst etwas
Illegales getan. Ein Räuber konnte er nicht sein. Dazu passte das Aussehen des
mild blickenden "Natschalniks" nicht. Er war genauso ein Amtsinhaber des
Lagers wie der Kommandant oder der Chefkoch.
"Das Papier wird hier ein großes Problem werden!" schauten viele besorgten
Augenpaare einander an. Vor meinem inneren Auge erschienen die vielen, teuren
Papierblätter, welche vor der Abreise von Cherson der Wind mit Marmelade und Fett
verschmiert über den Lagerhof jagte.
"Wie kann man sich Machorka verschaffen?" fragten mit beklommener Stimme
die nikotinhungrigen, Schlimmes ahnenden Raucher. Auch sie bekamen darauf eine
unsichere Antwort vom "Natschalnik", der augenscheinlich das Lächeln verlernt
hatte.
Die Gesellschaft war nicht minder verunsichert! Jetzt spürten wir erst richtig,
in was für eine verlassene Gegend wir gelangt waren, wohin vielleicht auch der
Vogel nur irrtümlich fliegt... "Weder Papier, noch Tabak. Ich glaube, da
werden auch andere, lebenswichtige Sachen fehlen."
Wann kann unter solchen Umständen der Briefwechsel mit dem Heim anlaufen? Wann
wird das erste Paket von den entfernten Gebieten des riesigen Landes hier ankommen?
"Wir werden lange Monate hindurch ausschließlich von der dünnen Lagerkost
vegetieren müssen, und können an unseren Zähnen saugen anstatt an der Zigarette!"
flüsterten die Menschen untereinander.
Diese Mängel und Sorgen interessierten Feri und mich zunächst nicht, wir waren
davon nicht betroffen. Wir konnten nie Briefe oder Pakete von Zuhause erwarten.
Wir rauchten nicht, die Zigarette fehlte uns also nicht. Aber doch ist es nicht
gleichgültig, ob solche Verwahrlosten, wie wir es waren, ihre Tage in einem hungrigen
Lager verbringen müssen, oder an einem solchen Ort, wo das Volk im Allgemeinen
satt ist.
Während des Gesprächs kamen auch solche Fragen an die Reihe:
"Wo werden wir arbeiten?"
"Die Abholzung ist hier die Hauptaufgabe", war die vorhersehbare Antwort,
auf die überflüssige Frage.
"Außer Abholzung gibt es keine andere Arbeit? Irgendwo in einer Werkstatt
oder anderswo?" hoffte ein Dreher, der früher in seinem Beruf arbeiten konnte.
"Gibt es keine", war die erste ausdrückliche Antwort. "Für den Geräteausgeber
brauchte man fünf Leute, die die Werkzeuge, Sägen, Äxte schleifen und reparieren,
aber der Bestand ist schon voll. Das innere Personal des Lagers: die Köche, Schneider,
Schuster werden die Alten abgeben. Wer arbeiten kann, der geht ohne Ausnahme in
den Wald hinaus."
"Werden wir, bevor wir zur Arbeit geschickt werden, warme Kleider bekommen?
Der vorherige Natschalnik entließ uns gerupft!" lautete unsere nächste bedrückende
Sorge als Frage formuliert.
"Es wird, es wird warme Kleidung geben", antwortete in einem gleichgültigen,
nicht besonders überzeugenden Ton der Gefragte. Es war ihm anzusehen, dass er
die Fragerei schon reichlich satt hatte. Aber jetzt versprach die Sache erst richtig
interessant zu werden.
"Wann werden die Kleider verteilt? Was wird man geben? Schafpelz?"
"Wir gehen wirklich so lange nicht zur Arbeit hinaus, bis wir alle eingekleidet
werden?"
Achselzucken war die Antwort. Mit gebeugtem Kopf, ohne Abschiedsgruß, ging der
Kultur-Natschalnik aus dem Ring der Neugierigen zur Tür los. Niemand hielt ihn
auf. Er hat genug gesagt damit, dass er beinahe nichts gesagt hatte.
Die durch das warme Zimmer gestern abend und das Geschenkabendessen erweckte zuversichtliche
Gemütsstimmung hatte einen gründlichen Dämpfer erhalten, ohne dass wir auch nur
einmal die Umgebung des Lagers verlassen, und die Axt in die Hand genommen hätten.
Es war irgendwie alles so nebelhaft, wie der graue, bewölkte Himmel selbst. Jene
kleine Hoffnung, dass es vielleicht doch nicht so schlimm sein wird, glimmerte
kaum noch in der Tiefe unseres ängstlich pochenden Herzens.
Aufmerksam betrachtete ich die Gesichter. Die Spuren der aus dem Süden mitgebrachten,
gesunden, braunen Farbe waren noch an den von der Reise gebrochenen Menschen zu
sehen. Doch das trübe Irrlicht der Angst vor der unsicheren Zukunft steckte in
all den unruhig forschenden Augen. Sie unterhielten sich leise, als wenn lautes
Gespräch verboten wäre. Das Flüstern erfüllte den Saal mit gleichmäßigem Gemurmel.
Wir ratschlagten und seufzten. Ohnmächtig und niedergeschlagen erwarteten wir
die Erfüllung unseres Schicksals, nach Maßgabe eines erbarmungslosen Verhängnisses.
Wir kamen nur aus der Baracke, wenn wir eine unverschiebbare Sache zu verrichten
hatten. Niemand hatte Lust herumzuschlendern und Bekannte aufzusuchen. Wenn wir
auf den Hof hinausblickten durch das in die Eisblumen gehauchte Fensterloch, trieb
uns der rauhe Anblick der frostigen Landschaft in die geschützte, warme Dunkelheit
der Baracke zurück. Wohl gingen die Ganoven hin und her, wie die Rastlosen. Sie
bauten ihre Verbindung untereinander aus. Sie ratschlagten nicht darüber, wo sie
arbeiten werden. Ihre Bemühungen zielten darauf ab, wie sie sich auch in diesem
Lager zum Bummelleben einrichten könnten, auf das Konto der arbeitenden Mehrheit.
Es konnte gegen Mittag sein, als der Kommandant kam und die Bewohner der Baracken
zu gruppenweisem Bad organisierte.
"Mittagessen wird es nicht geben?" fragte man den in Schafpelz steckenden,
behäbigen Wolgadeutschen.
"Was nicht noch? Hier gewöhnt euch das Mittagessen ab! Jetzt aber ab ins
Bad, sonst sperre ich die Tür auf und lasse euch erfrieren!" donnerte der von
Brei dick gewordene, rotwangige Treiber die sich verdrossen erhebenden Menschen
an. Noch zu lebhaft war die qualvolle Erinnerung des solikamskischen Bades in
uns, und mit Grauen im Herzen stolperten wir nacheinander auf dem schmalen Pfad
zum in der Ecke des Lagers stehenden, Rauchkringel ausstoßenden Badegebäude. Wir
hatten uns angenehm in dem Bad getäuscht, welches viel kleiner war, als das in
Solikamsk. Man war auch hier auf das Zuber-Badsystem eingerichtet, aber da war
Sauberkeit, Wärme und genug Wasser in den doppelgriffigen Holzzubern.
Das gründliche Bad tat uns sehr wohl, und nur ein paar Minuten schien die Zeit,
die wir mit angenehmer Planscherei verbracht hatten. Die Nachricht, wir könnten
uns anziehen, unsere Kleider erwarteten uns im Ankleideraum in einem Haufen, kam
uns gar nicht gelegen. Von dem guten, warmen Wasser waren wir ganz matt geworden,
und wir streckten uns müde auf der Pritsche aus. Still lagen wir und duselten
alle nach dem Bad ein.
Im Ural ist das Wasser ein teurer Schatz. Weil Wasserleitung im Urwald ein unvorstellbarer
Begriff ist, brachte ein zottelig behaartes Pferdchen das Wasser in einem großen,
auf Schlittenkufen befestigten Fass, aus einer nahen Quelle. Es ging den ganzen
Tag durchs Tor aus und ein. Den Wasserbedarf der Küche, des Warmwasserbereiters,
des Bades und des Krankenhauses deckte es fast störungsfrei. Den Verkehr hemmte,
dass man den Schlitten im Tor bis ins kleinste kontrollierte, aus- und einwärts
gleichermaßen. Die Zeit reichte dem kleinen Pferdchen daher täglich höchstens
für zehn Fahren.
Es war eine interessante Entdeckung für uns, dass alle Gebrauchsgegenstände, die
wir gesehen hatten, aus Holz waren. Eisen hatten wir nur in Form von Reifen oder
Bändern, die aber auch nicht an allen Gefäßen angebracht waren. Eimer, Teller,
Löffel, sogar der große Behälter zur Warmwasserbereitung waren aus Holz gefertigt.
Das Erhitzen des Badewassers geschah auf originelle Weise. Ein langes Eisenrohr
ragte durch eine mit Blech verkleidete runde Öffnung in das Innere des Behälters
hinein. Das andere Ende des Rohres war im Inneren eines Ziegelofens befestigt.
Im Ofen legte man die Glut auf das Rohr, und das wurde in seiner ganzen Länge
warm. Auf diese Weise erhitzte das in das Holzfass hineinragende Rohrende das
Badewasser.
Nach dem Baden schien die Baracke ganz kühl zu sein. Übrigens war sie es auch,
denn wir konnten nicht mehr heizen. Das Brennholz war ausgegangen, Nachschub gab
es keiner. Wenn jemand die Tür zögernd schloss, schrien wir ihn im Interesse der
restlichen Wärme im Chor an.
Wir wurden nicht lange in Ruhe gelassen. Das Barackenvolk wurde zur ärztlichen
Untersuchung gerufen. Die Gesundheitskontrolle und die Einteilung in Kategorien
nach Kondition wurde in der, dem Tor nächsten, also in der untersten, unbewohnten
Baracke abgewickelt. Ein russischer Arzt mittleren Alters sowie ein jüngerer,
kaukasisch aussehender Arzt hielten die oberflächliche Visite ab, die nur der
bloßen Form wegen veranstaltet wurde. Sie nahmen an, dass diejenigen, die von
so weit hierher geschickt wurden, nur gesunde Menschen sein konnten.
Wir entkleideten uns bis zur Hüfte im unbeheizten, kalten Zimmer, dessen einziges
Möbel ein abgenutzter Tisch war, mit der langen Namenliste darauf. Die Ärzte schauten
uns an, fragten nach Beschwerden. Auf die Antwort achteten sie nicht mehr besonders
und winkten dem Nächsten, während sie die Einordnungszahl für die Kategorien eins,
zwei, höchstens drei eintrugen. Die Einordnung in die Invalidenkategorie vier
konnte diesmal nicht in Frage kommen, nicht einmal bei den Alten.
Die Ärzte nahmen die vorgetragenen Beschwerden nicht ernst, sie konnten es nicht,
sie hatten Bohnen in den Ohren. Sie waren angewiesen, die Arbeitstauglichkeit
so zu bewerten, dass niemand vom Arbeitseinsatz befreit werden konnte. So zeigten
einige vergeblich ihre Nabel- oder Leistenbrüche oder Narben von an der Front
geholten Wunden. Sie alle konnten weitergehen um ihre bis dahin unter dem Arm
getragene Kleidung wieder anzuziehen.
Im laufenden Andrang kam ich zum schwarzwangigen Arzt. Als ich meinen Namen genannt
hatte, erheiterte sich sein Gesicht zu einem breiten Lächeln:
"Bist du Ungar?" fragte er. Nach meiner bejahenden Antwort erzählte er schnell,
dass er im Krieg auch in Ungarn gewesen sei. Es sei gut dort gewesen, er habe
viel "Palatschinta" gegessen und feines "Palinka" getrunken. Ich freute
mich über diese wenigen unerwarteten ungarischen Worten und über das freundliche
Lächeln. Wie ich später erfahren hatte, hieß er Schorka und war Georgier. Er war
aufgrund irgendeines politischen Paragraphen auch zu zehn Jahren verurteilt.
Nach der ärztlichen Untersuchung wurde in einem als Büro eingerichteten Zimmer
des sonst leeren Gebäudes eilends die Einteilung in Brigaden nach den Kategorien
abgewickelt: Kategorie eins und zwei für schwerere Arbeit, für leichtere Arbeit
die Kategorie drei. Die leichtere Arbeit war natürlich auch keine Bohnenlese!
Ich habe keine Ahnung, aufgrund wessen die Brigadiere ausgewählt wurden. Ob einige
sich persönlich gemeldet hatten, oder ihnen die unbeschränkte Macht über 30-35
Leute nach den Eintragungen ihres Stammblattes übertragen wurde?
Die frischgebackenen Brigadiere fingen bald an mit kleinen Papierstücken, auf
denen die Namen ihrer zukünftigen Brigade aufgelistet waren, durch die Baracken
zu gehen. Schallend riefen sie die Namen der zu ihnen Eingeteilten, als wenn sie
sie zur Etappe rufen würden. Das Zimmer leerte sich nach und nach. Der zukünftige
Chef und Befehlshaber führte seine Untertanen zu der zugewiesenen Brigadeherberge.
Ein kurzhalsiger, untersetzter, kleiner Mensch las auch meinen Name, gleich nach
dem von Feri Ruga. Sein Gesicht erinnerte an eine Kröte. Seine mit dicken Tränensäcken
geschmückten Augen quollen aus seinem gedunsenen, roten Gesicht hervor. Die durch
die wulstigen, breiten Lippen ausgepressten hastigen, heiseren Worte verstärkten
die auf den ersten Blick entstandene Antipathie. Missgestimmt stellten wir uns
vor ihn hin, signalisierend, dass wir seine zukünftigen Arbeiter seien.
"Nun, lasst uns gehen!" winkte er und ging hinaus. Er blieb auf dem Treppenaufgang
stehen, und zeigte auf das Ende der benachbarten Baracke:
"Dort ist ein kleines Zimmer, in das man auf mehreren Stufen hochgehen muss.
Nehmt auf den Pritschen Platz! Ich sammle noch die Anderen zusammen, dann komme
ich und werde die Anweisungen geben."
Betrübt schritten wir die schneebedeckten, rutschigen Holzstufen hinauf. Wir hätten
gern gewollt, wenn Werbizkij unser Brigadier geworden wäre. Es sah so aus, dass
er keine Brigade bekommen hatte, denn wir hatten ihn nicht mit Namenlisten in
der Hand herumschlendern sehen. Alle unseren Wünsche konnten sich ja nicht erfüllen,
zumal sich überhaupt nichts verwirklicht hatte, wovon wir im Waggon geträumt hatten.
Vorerst freuten wir uns auch darüber, dass wenigstens wir beide wieder zusammen
in einer Brigade waren.
Im Zimmer wurden wir angenehm überrascht. Wir fanden auf allen Liegeplätzen einen
vollgestopften Strohsack, außerdem ein dickes Plaid vor. Wir besetzten die zwei
oberen Liegeplätze der Pritsche gegenüber der Eingangstür, in dem schon weitgehend
belegten Raum. Es brannte auch Licht. Es strahlte einen schwachen Schein auf das
muffige Zimmer aus. Wegen der fehlenden Kapazität des eigenen Stromgenerators
ist das Licht in allen Lagern schwach. Das wichtigste war die Beleuchtung des
Zaunes und die Stromversorgung der Scheinwerfer. Uns reichte auch die 15 Watt
Glühbirne aus, um den Schlafplatz zu finden, und im Notfall die Ausgangstür.
Noch vier Landsmänner gelangten außer uns in die Brigade: Dezsõ Dodek, mit dem
wir im chersonischen Lager zusammen waren, ferner József Szabó und József Tipold,
zwei Schmiedegesellen aus dem Landesbezirk Veszprém, die beide aus dem gleichen
Dorf stammten, und noch László Horváth, ein Junge aus Pécs, der etwa ein Jahr
älter war, als ich. Die übrigen Brigadenmitglieder waren uns völlig unbekannt.
Es gab zwar unter ihnen Reisegefährten aus dem Gebiet von Cherson, aber aus unserem
Lager 31 war niemand.
In lebhaftem Gespräch machten wir uns mit unseren neuen Arbeitskollegen bekannt,
bis der Brigadier kam, seinen zuletzt aufgetriebenen Arbeiter vor sich leitend.
Fluchend schlug unser Chef den Schnee von seinen harmonikaartigen, glatt geputzten
Stiefeln vor dem sperrigen Ofen ab.
"Nun, seid ihr alle da?" ließ er seine hervorquellenden Augen über die still
gewordenen Gesellschaft schweifen. Wenn ich noch so versucht habe, mich mit der
Person unseres neuen Herrn zu befreunden, gelang es mir doch nicht, da sein Äußeres
alles andere als vertrauenerweckend war. Seine rohe Sprache, das in den kurzen
Hals übergehende Reptiliengesicht, die breiten Finger seiner gedrungenen Fäusten
versprachen nicht viel Gutes!
"Also dann, sollt ihr wissen, dass wir eine Holzfällerbrigade sind! Das ist
die schwerste Arbeit im Wald und gleichzeitig die Wichtigste. Die Verlader- und
Befördererbrigaden erhalten Material aufgrund unserer Arbeit. Wegen dieser herausgehobenen
und schweren Arbeit habt ihr alle Strohsäcke und Decken bekommen. Bequeme Liegeplätze
kommen nur den Holzfällerbrigaden zu, die anderen können auch weiterhin auf bloßen
Brettern herumliegen!" So und ähnlich, mit Flüchen bunt untermalt, führte er auf
der Fläche vor der Tür seine Erläuterungen, mit gespreizten Beinen, lebhaft gestikulierend,
aus. Ich hätte in Wahrheit auf den ehrenvollen Strohsack sofort verzichtet. Ich
fühlte nicht genügend Kraft in mir, um die Schwerstarbeit im Wald zu verrichten.
Feri und ich schauten uns gegenseitig an, und dann wieder auf den Brigadier. Der
führte bereits aus, für wie großes Brot man wieviel arbeiten muss. Die Norm pro
Kopf war drei Kubikmeter Holzblock pro Tag. Eine Arbeitsgruppe bestand aus fünf
Mann. Das Produktionssoll betrug damit fünfzehn Kubikmeter Block von Morgen bis
zum Abend: sägen, fällen, ästen, aufsägen und die normgerechten 6,10 oder 4,10
Meter Stämme der riesigen, jahrhundertealten Bäume auf einen Stapel am Weg lagern.
Die 100 %-ige Norm bedeutet 65 Deka Brot-Grundportion. Im Falle von Übererfüllung
kann man noch 10, 20 oder 30 Deka Brot dazuverdienen, bei höherer Erfüllung zusammen
mit 10-20 Deka dickem Rekordler-Brei. Wer die Norm nicht erfüllt, bekommt lediglich
45 Deka Brot. Wenn jemand die Arbeit verweigert, kann er mit 30 Deka Brot, und
jeden zweiten Tag einem Teller dünne Suppe in der schlecht beheizten Arrestzelle
schmachten, bis er zu besserer Einsicht kommt.
Ich hatte keine Ahnung, wieviel ein Kubikmeter oder fünfzehn sind. Aber das fühlte
ich, dass es ungemein viel ist, und diese Menge unsere Kräfte übersteigen würde.
Ich werde das 85-95 Deka große Brot wohl nie in der Hand halten - vielleicht einmal
sehen - in der Hand eines Anderen! Feri seufzte tief, ich folgte seinem Beispiel.
Wir sagten kein Wort. Wir dachten ohnehin das gleiche. Wir erwarteten das Heraufdämmern
jenes Tages nicht besonders froh, an dem die Säge das erste Mal aufheulen, und
die Axt das erste Mal am Fuß der hohen Tannen aufblitzen sollte.
Ein hagerer, langhalsiger Typ schlich an der Seite des Brigadeführers einher.
Ich dachte, er habe sich bestimmt zum Vertreter eingeschmeichelt. Bald stellte
sich heraus, dass dieser fuchswangige Mensch der Arbeitsaufseher, der "Desjatnjik",
der Brigade sein wird, der Qualitätskontrolleur des geschlagenen Holzes. Er gehört
zum Bestand der Brigade. Die Arbeiter mussten auch für seine Person die drei Kubikmeter
produzieren, damit er nicht unproduktiv dem Lager auf dem Hals sitzt. Unser künftiger
Kontrolleur hieß Kuzenko, wie wir anhand der Vorstellung durch den Brigadier erfuhren.
An diesem schnell dunkel werdenden Winterabend hatte man noch einen wichtigen
Amtsinhaber eingesetzt: ein alter Moldauer mit verkrüppelter Hand wurde der Zimmerhüter
der Brigade und auch Räumer in einer Person. Um nicht zu vergessen es zu erwähnen:
auch für seine Person hatte man die drei Kubikmeter Produktion vorgeschrieben.
Es war rätselhaft, was er für die täglichen drei Kubikmeter außer den bloßen Wänden
behüten sollte. Auch das stimmte mich nachdenklich, dass hier alle produzieren
mussten, eine Ausnahme gab es scheinbar nicht. Ob die Norm des Kommandanten und
der Köche auch uns angelastet wurde? Auch die des Brigadiers? Darüber sagte man
nichts, aber ist es möglich, dass es so war. Im Lager von Cherson wurde nicht
gesagt, dass auch für auf den Fluren herumschlendernden Popen die dort wohnenden
Brigaden die Norm zu erfüllen hätten.
Jetzt war es schon egal. Es hatte keinen Sinn, zu vergleichen. Es war besser,
unserem Herzen keinen Schmerz damit zuzufügen, dass wir immer wieder das chersonische
Lager erwähnten. Hier, weit von Moskau entfernt, existieren scheinbar andere Gesetze,
die Willkür der örtlichen Machthaber...
Zum Abendessen gingen wir schon brigadenweise.
"Brigade Gontscharow!" sagte unser Brigadeführer durch das Verteilerfenster
hinein. Also heißt er Gontscharow. Denn sich vorzustellen, das hatte er vergessen
oder für überflüssig gehalten. Er dachte, wir würden seinen Namen sowieso lernen,
und nicht vergessen, so lange wir leben! Wenn er so dachte, dann dachte er richtig.
Sein Name klang russisch, aber er selbst, wie auch Kuzenko, war Ukrainer. Auch
seine Sprache zeugte davon.
Auch in diesem Lager nahm nun das organisierte Lagerleben seinen Anfang. Die ungeordneten
Verhältnisse der Etappe und des Sammellagers waren zu Ende!
Spät am Abend war nicht mehr die Rede davon, dass wir noch zwei Ruhetage hätten.
Gontscharow bereitete seine kleinlaut gewordene Brigade mit so einem Eifer auf
den ersten Arbeitstag vor, dass niemand die Frage gewagt hatte: "Wird man
uns bereits in dieser mangelhaften Bekleidung zur Arbeit hinaustreiben? Oder haben
wir morgen noch Ruhe?..."
Von der ersten Minute an sprach Gontscharow mit seinen Leuten in einem solchen
Ton, dass er einen jeden abgeschreckt hatte. Es gab keine Frage, es gab kein Gespräch
in seiner Anwesenheit.
Nach dem Abendessen krochen wir gleich unter das Plaid. Wir wollten mit der auf
unseren Kopf gezogenen Decke das auf uns wartende Morgen ausgrenzen, und mit der
Wärme unseres eigenen Atems unsere Glieder vor dem Waten im Schnee verhätscheln.
Wenn ich mit noch so großer Abscheu an das Morgen gedacht hatte, bemächtigte sich
meiner alsbald die Müdigkeit. Ich versank in einen tiefen und unruhigen Schlaf
mit der Reihe alarmierender Traumbilder, die mir meine düstere Vorahnungen eingaben.